Bernhard Riemann's Lebenslauf.

Richard Dedekind

[Aus Bernhard Riemann's gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass. Zweite Auflage, bearbeitet von Heinrich Weber. B. G. Teubner, Leipzig, 1892, S. 541-558.]

Die nachfolgende Darstellung von Riemann's Lebenslauf bezweckt keineswegs, die Bedeutung seiner wissenschaftlicher Leistungen und deren Verhältniss zu dem früheren und gegenwärtigen Zustande der Mathematik in's Licht zu stellen, sie ist vielmehr nur für solche Leser bestimmt, welche einige Nachrichten über den Bildungsgang, den Charakter und die äusserlichen Schicksale des grossen Mathematikers zu erhalten wünschen dessen Werke jetzt zum ersten Male vollstängig gesammelt erscheinen.

Georg Friedrich Bernhard Riemann ist am 17. September 1826 in Breselenz, einem Dorfe im Königreich Hannover bei Dannenberg nahe der Elbe, geboren. Sein Vater Friedrich Bernhard Riemann, geboren in Boitzenburg an der Elbe in Mecklenburg, der als Lieutenant unter Wallmoden an den Befreiungskriegen Theil genommen, war dort Prediger und mit Charlotte, der Tochter des Hofrath Ebell aus Hannover verheirathet; er siedelte später mit seiner Familie nach der etwa drei Stunden entfernten Pfarre Quickborn über. Bernhard war das zweite von sechs Kindern. Schon früh wurde seine Lernbegierde durch den Vater geweckt, der ihn bis zum Abgange auf das Gymnasium fast allein unterrichtete. Als Knabe von fünf Jahren interessirte er sich sehr für Geschichte, für Züge aus dem Alterthum, und ganz besonders für das unglückliche Schicksal Polens, welches sein Vater ihm immer von Neuem erzählen musste. Sehr bald aber trat dies in den Hintergrund, und sein entschiedenes Talent für das Rechnen brach sich Bahn; er kannte kein grösseres Vergnügen, als selbst schwierige Exempel zu erfinden und dann seinen Geschwistern aufgeben. Später, vom zehnten Jahre Bernhard's an, liess sich der Vater bei dem Unterrichte der Kinder von dem Lehrer Schulz unterstützen; dieser gab guten Unterricht im Rechnen und in der Geometrie, musste sich jedoch bald sehr anstrengen, seines Schülers rascher, oft besserer Lösung einer Aufgabe zu folgen.

Im Alter von dreizehn und einem halben Jahr wurde Bernhard von dem Vater confirmirt und verliess darauf das elterliche Haus, in welchem ein ernster, frommer Sinn und häuslich angeregtes Leben herrschte. Die Eltern sahen ihre Hauptaufgabe in der Erziehung ihrer Kinder; die innigste Liebe verband Riemann mit seiner Familie und hat sich durch sein ganzes ferneres Leben erhalten; sie spricht sich in seinen Briefen aus, die er an die entfernten Lieben richtet, wo er an Allem, was das Elternhaus betrifft, auch an die kleinsten Vorgängen das lebhafteste Interesse zeigt, und auch sie treulich alle seine Freuden und Leiden theilen lässt.

Zu Ostern 1840 kam Riemann nach Hannover, wo seine Grossmutter lebte, und wo er zwei Jahre - bis zum Tode derselben - die Tertia des Lyceums besuchte. Anfangs hatte er, wie es nach seiner bisherigen Erziehung zu erwarten war, mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden, doch werden bald seine Fortschritte in den einzelnen Unterrichtsgegenständen gelobt, und immer ist er ein fleissiger und folgsamer Schüler. Namentlich aus dieser Zeit sind zahlreiche Briefe Riemann's an die geliebten Eltern und Geschwister erhalten, in welchen er, oft mit glücklichem Humor, von den Schulereignissen berichtet. Vorwegend ist aber die Sehnsucht nach dem Elternhause; wenn die Ferien herannahen, so bittet er inständig um die Erlaubniss, dieselben in Quickborn zubringen zu dürfen, und lange vorher sinnt er auf Mittel, die Reise mit möglichst wenigen Kosten bewerkstelligen zu können; zu den Geburtstagen der Eltern und Geschwister macht er kleine Einkäufe und ist eifrig darauf bedacht, sie damit wirklich zu überraschen. Er lebt in Gedanken noch ganz in dem häuslichen Kreise. Bisweilen klingt aber auch eine wehmüthige Klage durch, wie schwer es ihm werde, mit fremden Menschen zu verkehren, und die Schüchternheit, welche, eine natürliche Folge seines früheren abgeschlossenen Lebens, ihn zu seinem Kummer auch den Lehrern bisweilen in falschen Lichte ersecheinen lässt, hat ihn auch später nie gänzlich verlassen und oft angetrieben, sich der Einsamkeit und seiner Gedankenwelt zu überlassen, in welcher er die grösste Kühnheit und Vorurtheilslosigkeit entfaltet hat.

Nach dem Tode der Grossmutter wurde Riemann, wie es scheint auf seinen eignen Wunsch, Ostern 1842 von dem Vater auf das Johanneum zu Lüneburg gebracht, wo er zwei Jahre in Secunda und zwei Jahre in Prima bis zu seinem Abgange nach der Universität blieb. Gleich in die erste Zeit seines dortigen Aufenthaltes fiel der grosse Brand von Hamburg, der tiefen Eindruck auf ihn machte, und über den er ausführlich an seine Eltern berichtete. Die grössere Nähe bei seiner Heimath und die Möglichkeit, die Ferien in Quickborn in seiner Familie zu verleben, trug dazu bei, die fernere Schulzeit zu einer glücklichen für ihn zu machen. Freilich war die Hin- und Herreise, die zum grössten Theil zu Fuss gemacht wurde, mit Anstrengungen verbunden, denen sein Körper nicht immer gewachsen war; schon in dieser Zeit spricht sich in den schönen Briefen seiner Mutter, die er leider bald verlieren sollte, ängstliche Sorge um seine Gesundheit aus, und oft wiederholen sich ihre herzlichen Ermahnungen, zu grosse körperliche Anstrengungen zu vermeiden. Er wohnte später bei dem Gymnasiallehrer Seffer, der sich lebhaft für ihn interessirte, und an dem er, wie aus seinen Briefen hervorgeht, einen väterlichen Freund und Beschützer gefunden hat. Er bekam gute Zeugnisse auch in anderen Fächern, in Mathematik aber immer glänzende, beim Abgange die Eins. Seine grosse Begabung für diese Wissenschaft wurde von dem trefflichen Director Schmalfuss erkannt; dieser lieh ihm mathematische Werke zum Privatstudium und wurde oft überrascht und in Erstaunen gesetzt, wenn Riemann dieselben schon nach wenigen Tagen zurückbrachte und dann in der Unterhaltung zeigte, dass er sie durchgearbeitet und vollständig aufgefasst hatte. Diese neben seinen Schularbeiten betriebenen Studien müssen ihn weit über die Grenzen des Gymnasial-Unterrichtes hinaus in das Gebiet der höheren Mathematik geführt haben; die Bekanntschaft mit der höheren Analysis hat er, soviel bekannt ist, durch das Studium der Euler'schen Werke erworben; auch Legendre's Théorie des Nombres soll er in dieser Zeit gelesen haben.

Im Alter von neunzehn und einem halben Jahr bezog Riemann Ostern 1846 die Universität Göttingen. Der seinem geistlichen Berufe von Herzen ergebene Vater hegte den natürlichen Wunsch, er möge sich der Theologie widmen, und wirklich liess Riemann sich am 25. April als Studiosus der Philologie und Theologie immatriculiren; zu diesem mit seiner deutlich hervorgetretenen Neigung und Begabung für die Mathematik nicht im Einklange stehenden Entschlusse wird vor Allem die Rücksicht auf die Mittellosigkeit der kinderreichen Familie und die Hoffnung beigetragen haben, früher eine Anstellung zu finden und dadurch seinem Vater eine Erleichterung zu gewähren. Neben den philologischen und theologischen Vorlesungen hörte er aber auch mathematische, und zwar gleich im Sommersemester über die numerische Auflösung der Gleichungen bei Stern, und über Erdmagnetismus bei Goldschmidt, sodann im Wintersemester 1846--1847 über die Methode der kleinsten Quadrate bei Gauss, und über bestimmte Integrale bei Stern. Er sah bei dieser fortgesetzten Beschäftigung mit der Mathematik bald ein, dass die Neigung zu derselben zu mächtig in ihm war, und erwirkte von seinem Vater die Erlaubniss, sich ganz seinem Lieblingsstudium widmen zu dürfen.

Obgleich nun Gauss seit fast einem halben Jahrhundert unbestritten den Rang des grössten lebenden Mathematikers einnahm, so beschränkte sich seine zwar sehr anregende Lehrthätigkeit doch nur auf ein kleines Feld, welches mehr der angewandten Mathematik angehörte, und für Riemann war bei dem vorgeschrittenen Standpunkte seines Wissens eine wesentliche Bereicherung desselben und eine Befruchtung mit neuen Ideen damals in Göttingen nicht mehr zu erwarten. Er bezog daher Ostern 1847 die Universität Berlin, wo Jacobi, Lejeune Dirichlet und Steiner durch den Glanz ihrer Entdeckungen, welche sie zum Gegenstande ihrer Vorlesungen machten, zahlreiche Schüler um sich versammelten. Er blieb dort zwei Jahre, bis Ostern 1849, und hörte unter Anderem bei Dirichlet Zahlentheorie, Theorie der bestimmten Integrale und der partiellen Differentialgleichungen, bei Jacobi analytische Mechanik und höhere Algebra. Leider sind nur wenige Briefe aus dieser Zeit erhalten; in einem derselben (vom 29. Nov. 1847) spricht er seine grosse Freude darüber aus, dass Jacobi sich gegen seine anfängliche Absicht noch entschlossen habe, Mechanik vorzutragen. In einen näheren Verkehr mit ihm trat Eisenstein, bei dem er in dem ersten Jahre Theorie der elliptischen Functionen hörte. Riemann hat später erzählt, dass sie auch über die Einführung der complexen Grössen in die Theorie der Functionen mit einander verhandelt haben, aber gänzlich verschiedener Meinung über die hierbei zu Grunde zu legenden Principien gewesen seien; Eisenstein sei bei der formellen Rechnung stehen geblieben, während er selbst in der partiellen Differentialgleichung die wesentliche Definition einer Function von einer complexen Veränderlichen erkannt habe. Wahrscheinlich sind diese, für seine ganze spätere Laufbahn maassgebenden Ideen zuerst in den Herbstferien 1847 gründlich von ihm verarbeitet.

Von dem übrigen Leben Riemann's während seines zweijährigen Aufenthaltes in Berlin ist nur wenig aus den Briefen zu ersehen. Die grossen politischen Erreignisse des Jahres 1848 ergriffen auch ihm mächtig; er ware Augenzeige der März-Revolution und hatte als Mitglied des von den Studenten gebildeten Corps die Wache im königlichen Schlosse vom 24. März Morgens 9 Uhr bis zum folgenden Tage Mittags 1 Uhr.

Ostern 1849 kehrte Riemann, nachdem er noch die Ankunft der Frankfurter Kaiser-Deputation in Berlin erlebt hatte, nach Göttingen zurück. Er besuchte in den drei folgenden Semestern noch einige naturwissenschaftliche und philosophische Vorlesungen, under anderen mit grösstem Interesse die genialen Vorlesungen über Experimental-Physik von Wilhelm Weber, an welchem er sich später eng anschloss, und der ihm bis zu seinem Tode ein treuer Freund und Rathgeber gewesen ist. In dieser Zeit müssen bei gleichzeitiger Beschäftigung mit philosophischen Studien, welche sich namentlich auf Herbart richteten, die ersten Keime seine naturphilosophischen Ideen sich entwickelt haben; dies scheint wenigstens, soweit es sich nur um das Streben nach einer einheitlichen Naturauffassung handelt, aus einer Stelle eines Aufsatzes ,,Ueber Umfang, Anordnung und Methode des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf Gymnasien`` hervorzugehen, den er im November 1850 als Mitglied des pädagogischen Seminars verfasste, und in welchem er sagt: ,,So z. B. lässt sich eine vollkommen in sich abgeschlossene mathematische Theorie zusammenstellen, welche von den für die einzelnen Punkte geltenden Elementargesetzen bis zu den Vorgängen in dem uns wirklich gegebenen continuirlich erfüllten Raume fortschreitet, ohne zu scheiden, ob es sich um die Schwerkraft, oder die Electricität, oder die Magnetismus, oder das Gleichgewicht der Wärme handelt.`` Im Herbst 1850 trat er auch in das kurz vorher gegründete mathematisch-physikalische Seminar ein, welches von den Professoren Weber, Ulrich, Stern und Listing geleitet wurde, und betheiligte sich namentlich an den physikalischen experimentellen Uebungen, obgleich er dadurch von seiner Hauptaufgabe, der Ausarbeitung der Doctordissertation, oft abgezogen wurde. Theils diesem Umstande, theils aber auch der fast ängstlichen Sorgfalt, welche Riemann auf die Ausarbeitung seiner für den Druck bestimmten Schriften verwendete, und die ihn auch später bei der Veröffentlichung seiner Arbeiten wesentlich gehemmt hat, wird es zuzuschreiben sein, dass er seine Abhandlung ,,Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Functionen einer veränderlichen complexen Grösse`` erst im November des folgenden Jahres 1851 der philosophischen Facultät einreichen konnte. Dieselbe fand eine sehr anerkennende Beurtheilung von Gauss, welcher Riemann bei dessen Besuch mittheilte, dass er seit Jahren eine Schrift vorbereite, welche denselben Gegenstand behandele, sich aber freilich nicht darauf beschränke. Das Examen war am Mittwoch den 3. December, die öffentliche Disputation und Doctor-Promotion am Dienstag den 16. December. An seinen Vater schreibt er: ,,Durch meine jetzt vollendete Dissertation glaube ich meine Aussichten bedeutend verbessert zu haben; auch hoffe ich, dass ich mit der Zeit fliessender und rascher schreiben lerne, namentlich wenn ich mehr Umgang suche und auch erst Gelegenheit habe, Vorträge zu halten; ich habe daher jetzt guten Muth.`` Zugleich entschuldigt er sich in Rücksicht auf die Kosten, die er dem Vater verursacht, dass er sich nicht eifriger um die durch Goldschmidt's Tod erledigte Observatorstelle and der Sternwarte bemüht habe,1 und theilt mit, dass seiner Habilitation als Privatdocent nichts im Wege stehe, sobald er die Habilitationsschrift fertig habe. Es scheint schon früh seine Absicht gewesen zu sein, zum Gegenstande derselben die Theorie die trigonometrischen Reihen zu wählen, allein es vegehen bis zu seiner Habilitation doch wieder zwei und ein halbes Jahr.

In den Herbstferien 1852 hielt sich Lejeune Dirichlet, dem er noch von Berlin her wohl bekannt war, eine Zeit lang in Göttingen auf, und Riemann, der eben von Quickborn dorthin zurückgekehrt war, hatte das Glück, ihn fast täglich zu sehen. Gleich bei seinem ersten Besuche in der Krone, wo Dirichlet wohnte, und am folgenden Tage in einer Mittagsgesellschaft bei Sartorius von Waltershausen, in welcher auch die Professoren Dove aus Berlin und Listing gegenwärtig waren, fragte er Dirichlet, den er nächst Gauss als den grössten damals lebendigen Mathematiker anerkannte, um Rath wegen seiner Arbeit. ,,Am andern Morgen - schreibt Riemann an seinen Vater - war Dirichlet etwa zwei Stunden bei mir; er gab mir die Notizen, die ich zu meiner Habilitationschrift bedurfte, so vollständig, dass mir die Arbeit dadurch wesentlich erleichtert ist; ich hätte sonst auf der Bibliothek nach manchen Sachen lange suchen können. Auch meine Dissertation ging er mit mir durch und war überhaupt äusserst freundlich gegen mich, wie ich es bei dem grossen Abstande zwischen mir und ihm kaum erwarten durfte. Ich hoffe, er wird mich auch später nicht vergessen.`` Einige Tage darauf traf auch Wilhelm Weber von der Wiesbadener Naturforscher-Versammlung wieder in Göttingen ein; es wurde in grösserer Gesellschaft ein sehr lohnender Ausflug nach dem einige Studenten entfernten Hohen Hagen gemacht, und am folgenden Tage trafen Dirichlet und Riemann abermals im Weber'schen Hause zusammen. Solche persönliche Anregung war im höchsten Grade wohlthuend für Riemann, und er schreibt selbst hierüber an seinen Vater: ,,Du siehst, dass ich hier im Ganzen noch nicht sehr häuslich gelebt habe; aber ich bin dafür des Morgens desto fleissiger bei der Arbeit gewesen, und finde, dass ich so weiter gekommen bin, als wenn ich den ganzen Tag hinter meinen Büchern sitze.``

In jenen Tagen schreibt er auch von seiner Habilitation und von den Anfange seiner Vorlesungen, wie von unmittelbar bevorstehenden Dingen, und er würde gewiss auch viel rascher in seiner äusserlichen Laufbahn fortgeschritten sein, wenen ihm öfter eine solche treibende Anregung zu Theil geworden wäre. Offenbar fällt in den Anfang des Jahres 1853 eine fast ausschliessliche Beschäftigung mit Naturphilosophie; seine neuen Gedanken gewinnen eine feste Gestalt, auf die er nach allen Unterbrechungen stets wieder zurückgekommen ist. Endlich ist auch die Habilitationsschrift fertig, und er schreibt an seinen jüngeren Bruder Wilhelm am 28. December 1853: ,,Mit meinen Arbeiten steht es jetzt so ziemlich; ich habe Anfangs December meine Habilitationsschrift2 abgeliefert und musste dabei drei Themata zur Probevorlesung vorschlagen, von denen dann die Facultät eines wählt. Die beiden ersten hatte ich fertig und hoffte, dass man eins davon nehmen würde; Gauss aber hatte das dritte3 gewählt, und so bin ich nun wieder etwas in der Klemme, da ich dies noch ausarbeiten muss. Meine andere Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Electricität, Galvanismus, Licht und Schwere hatte ich gleich nach Beendigung meiner Habilitationsschrift wieder aufgenommen und bin mit ihr so weit gekommen, dass ich sie in dieser Form unbedenklich veröffentlichen kann. Es ist mir dabei aber zugleich immer gewisser geworden, dass Gauss seit mehreren Jahren auch daran arbeitet, und einigen Freunden, u. A. Weber, die Sache unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgetheilt hat, - Die kann ich dies wohl schreiben, ohne dass es mir als Anmaassung ausgelegt wird - ich hoffe, dass es nun für mich noch nicht zu spät ist und es anerkannt werden wird, dass ich die Sachen vollkommen selbständig gefunden habe.``

Um diese Zeit wurde Riemann im mathematisch-physikalischen Seminar Assistent von W. Weber und hatte als solcher die Uebungen der Neueintretenden zu leiten, auch einige Vorträge zu halten. Ueber den weiteren Fortgang siner Arbeiten schreibt er am 26. Juni 1854 aus Quickborn seinem Bruder: ,,Um Weihnachten habe ich Dir von Göttingen aus, wie ich glaube, geschrieben, dass ich meine Hablitationsschrift Anfang December vollendet und an den Decan abgegeben hätte, sowie auch, dass ich bald darauf mich wieder mit meiner Untersuchung über den Zusammenhang der physikalishen Grundgesetze beschäftigte und mich so darin vertiefte, dass ich, als mir das Thema zur Probevorlesung beim Colloquium gestellt war, nicht gleich wieder davon loskommen konnte. Ich ward nun bald darauf krank, theils wohl in Folge zu vielen Grübelns, theils in Folge des vielen Stubensitzens bei dem Schlechten Wetter; es stellte sich mein altes Uebel wieder mit grosser Hartnäckigkeit ein und ich kam dabei mit meinen Arbeiten nicht vom Fleck. Erst nach mehreren Wochen, als das Wetter besser wurde und ich wieder mehr Umgang suchte, given es mit meiner Gesundheit besser. Für den Sommer habe ich nun eine Gartenwohnung gemiethet und habe seitdem gottlob über meine Gesundheit nicht zu klagen gehabt. Nachdem ich etwa vierzehn Tage nach Ostern mit einer andern Arbeit, die ich nicht gut vermeiden konnte, fertig geworden war, ging ich nun eifrig an die Ausarbeitung meiner Probevorlesung und wurde am Pfingsten damit fertig. Ich erreichte es indess nur mit vieler Mühe, das ich mein Colloquium gleich maschen konnte und nicht noch wieder unverrichteter Sache nach Quickborn abreisen musste. Gauss's Gesundheitszustand ist nämlich in der letzten Zeit so schlimm geworden, dass man noch in diesem Jahre seinen Tod fürchtet und er sich zu schwach fühlte, mich zu examiniren. Er wünschte nun, dass ich, weil ich doch erst im nächsten Semester lesen könnte, wenigstens noch bis zum August auf seine Besserung warten möchte. Ich hatte mich schon in das Unvermeidliche gefügt. Da entschloss er sich plötzlich auf mein wiederholtes Bitten ,,um die Sache vom Halse los zu werden``, am Freitag nach Pfingsten Mittag das Colloquium auf den andern Tag um halb elf anzusetzen und so war ich am Sonnabend um eins glücklich damit fertig. - Lass Dir nun noch in aller Eiler erzählen, was es mit der andern Arbeit, die mich um Ostern beschäftigte, für eine Bewandtniss hat. In den Osterferien war Kohlrausch - ein Sohn vom Oberschulrath und Vetter und Schwager von Schmalfuss - der jetzt Professor in Marburg ist, auf vierzehn Tage bei Weber zum Besuch, um mit ihm gemeinschaftlich eine experimentelle Untersuchung über Electricität zu machen, da Weber zu dem einen Theil dieser Untersuchung, Kohlrausch zu dem anderen Theil derselben die Vorarbeiten gemacht und die Apparate erdacht und construirt hatte. Ich nahm an ihren Experimenten Theil und lernte bei dieser Gelegenheit Kohlrausch kennen. Kohlrausch hatte nun einige Zeit vorher sehr genaue Messungen über eine bis dahin unerforschte Erscheinung (den electrischen Rückstand in der Leidener Flasche) gemacht und veröffentlicht und ich hatte durch meine allgemeinen Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Electricität, Licht und Magnetismus die Erklärung davon gefunden. Ich sprach nun mit K. darüber und dies war die Veranlassung, dass ich die Theorie dieser Erscheinung für ihn ausarbeitete und ihm zuschickte. Kohlrausch hat mir nun jetzt sehr freundlich geantwortet, mir angeboten, meine Arbeit an Poggendorff, den Herausgeber der Annalen der Physik und Chemie, in Berlin zum Druck zu schicken, und mich eingeladen, ihn in diesen Herbstferien zu besuchen, um die Sache weiter zu verfolgen. Mir ist diese Sache deshalb wichtig, weil es das erste Mal ist, wo ich meine Arbeiten auf eine vorher noch nicht bekannte Erscheinung anwenden konnte, und ich hoffe, dass die Veröffentlichung dieser Arbeit dazu beitragen wird, meiner grösseren Arbeit eine günstige Aufnahme zu verschaffen. Hier in Quickborn werde ich mich nun wohl theils mit dem Druck dieser Arbeit, da mir die Correcturbogen wahrscheinlich zugeschickt werden, theils mit des Ausarbeitung einer Vorlesung für nächstes Semester beschäftigen müssen.``

Zu dem ersten Theile des Briefes ist noch zu bemerken, dass Riemann die Ausarbeitung seiner Probevorlesung über die Hypothesen der Geometrie sich durch sein Streben, allen, auch den nicht mathematisch gebildeten Mitgliedern der Facultät möglichst verständlich zu bleiben, wesentlich erschwert hat, die Abhandlung ist aber hierdurch in der That zu einem bewunderungswürdigen Meisterstück auch in der Darstellung geworden, indem sie ohne Mittheilung der analytischen Untersuchung den Gang derselben so genau angiebt, dass sie nach diesen Vorschriften vollständig hergestellt werden kann. Gauss hatte gegen das übliche Herkommen von den drei vorgeschlagenen Thematen nicht das erste, sondern das dritte gewählt, weil er begierig war zu hören, wie ein so schwieriger Gegenstand von einem so jungen Manne behandelt werden würde; nun setzte ihn die Vorlesung, welche alle seine Erwartungen übertraf, in das grösste Erstaunen, und auf dem Rückwege aus der Facultäts-Sitzung sprach er sich gegen Wilhelm Weber mit höchster Anerkennung und mit einer bei ihm seltenen Erregung über die Tiefe der von Riemann vorgetragenen Gedanken aus.

Nach einem längeren Anfenthalte in Quickborn kehrte Riemann im September nach Göttingen zurück, um an der Naturforscher-Versammlung Theil zu nehmen; auf Weber's und Stern's Aufforderung entschloss er sich, in der mathematisch-physikalisch-astronomischen Section einen Vortrag über die Verbreitung der Electricität in Nichtleitern zu halten. Er schreibt darüber an seinen Vater: ,,Mein Vortrag kam am Donnerstag an die Reihe, und da für diese Sitzung unserer Section kein anderer angekündigt war, so arbeitete ich die Sache noch den Abend vorher etwas weiter aus, um die gewöhnliche Zeit der Sitzunen einigermaassen auszufüllen. Ich hatte anfangs nur das Gesetz, welches ich mittheilen wollte, kurz angeben wollen, wandte es aber nun noch auf mehrere Erscheinungen an und zeigte die Uebereinstimmung mit der Erfahrung. Mein Vortrag war nun freilich in diesem letzten Theile weniger fliessend, aber ich glaube doch, dass der Eindruck des Ganzen durch Hinzufügung desselben gewonnen hat; ich sprach ungefähr 5/4 Stunden. - Dass ich bei der Versammlung einmal öffentlich gesprochen habe, hat mir wieder etwas mehr Muth zu meiner Vorlesung gemacht; doch habe ich zugleich gesehen, wie gross der Unterschied ist, ob man schon längere Zeit vorher mit seinen Gedanken ins Reine gekommen ist, odernoch unmittelbar vorher daran gearbeitet hat. Ich hoffe in einem halben Jahre schon mit mehr Ruhe an meine Vorlesungen zu denken, und mir nicht wieder meinen Aufenthalt in Quickborn und mein Zusammensein mit Euch so dadurch verleiden zu lassen, wie das letzte Mal.`` Auch mit Kohlrausch war er in Göttingen wieder zusammengetroffen; nach einem weiteren Briefwechsel entschloss sich aber Riemann, auf die Veröffentlichung seines Aufsatzes über den Rückstand in der Leidener Flasche zu versichten, vermuthlich weil er nicht gern auf eine ihm angerathene Abänderung desselben eingehen wollte. Statt dessen erschien in Poggendorff's Annalen der Aufsatz über die Theorie der Nobili'schen Farbenringe, über welchen er an seine ältere Schwester Ida schreibt: ,,Es ist dieser Gegenstand deshalb wichtig, weil sich hiernach sehr genaue Messungen anstellen und die Gesetze, nach denen die Electricität sich bewegt, sehr genau daran prüfen lassen.``

In demselben Briefe vom 9. October 1854 schreibt er mit grosser Freude von dem Zustandekommen seiner ersten Vorlesungen, zu welcher über sein Erwarten viele Zuhörer, etwa acht, sich gemeldet hatten. Der Gegenstand derselben war die Theorie der partiellen Differentialgleichungen mit Anwendung auf physikalische Probleme; als Vorbild dienten ihm der Hauptsache nach die Vorlesungen, welche Dirichlet unter gleichem Titel in Berlin gehalten hatte. Ueber seinen Vortrag schreibt er am 18. November 1854 seinem Vater: ,,Mein Leben hat hier jetzt nach und nach eine ziemlich regelmässige und einförmige Gestalt angenommen. Meine Collegia habe ich bis jetzt regelmässig halten können, meine anfängliche Befangenheit hat sich schon ziemlich gelegt und ich gewöhne mich daran, mehr and die Zuhörer, als an mich dabei zu denken, und in ihren Mienen zu lesen, ob ich vorwärts gehen oder die Sache noch weiter auseinander setzen muss.`` Es ist indessen keinem Zweifel unterworfen, dass der mündliche Vortrag ihm in den ersten Jahren seiner akademischen Lehrthätigkeit grosse Schwierigkeiten verursachte. Seine glänzende Denkkraft und vorahnende Phantasie liess ihn meist, was besonders bei zufälligen mündlichen Unterhaltungen über wissenschaftliche Gegenstände zum Vorschein kam, sehr grosse Schritte nehmen, denen man nicht so leicht folgen konnte, und wenn man ihn zu einer näheren Erörterung einiger Zwischenglieder seiner Schlüsse aufforderte, so konnte er stutzig werden und es verursachte ihm einige Mühe, sich in den langsameren Gedankengang des Anderen zu fügen und dessen Zweifel rasch zu beseitigen. So hat ihn auch bei seinen Vorlesungen die Beobachtung der Mienen seiner Zuhörer, von der er oben schreibt, oft empfindlich gestört, wenn er, bisweilen ganz gegen sein Erwarten, sich genöthigt glaubte, einen für ihn fast selbstverständlichen Punkt noch besonders zu beweisen. Dies hat sich aber nach längerer Uebung verloren, und die verhältnissmässig grosse Zahl seiner Schüler ist nicht blos der Anziehungskraft seines durch die tiefsinningsten Werke berühmt gewordenen Namens, sondern auch seinem Vortrage zuzuschreiben, auf den er sich stets sehr sorgfältig vorbereitete, und durch welchen es ihm gelang, seine Zuhörer über die grossen Schwierigkeiten hinwegzuführen, die sich dem Eindringen in die von ihm geschaffenen neuen Principien entgegenstellen.

Am 23. Februar 1855 starb Gauss, und bald darauf wurde Lejeune Dirichlet von Berlin nach Göttingen berufen. Bei dieser Gelegenheit wurde von mehreren Seiten, aber vergeblich dahin gewirkt, dass Riemann zum ausserordentlichen Professor ernannt werden möchte; erreicht wurde nur, dass ihm eine Remuneration von jährlich 200 Thaler von der Regierung ausgesetzt wurde; so gering diese Summe war, eine so wichtige Erleichterung gewährte sie Riemann, der in dieser und der nächsten Zeit wohl oft mit düsterem Blick in die Zukunft schaute. Es begann eine Reihe von traurigen Jahren, in denen ihn ein schmerzlicher Schlag nach dem anderen traf. Noch im Jahre 1855 verlor er seinen Vater und eine Schwester, Clara; die alte, so innig geliebte Heimath in Quickborn wurde verlassen, seine drei Schwestern zogen zu dem Bruder Wilhelm nach Bremen, der dort Postsecretair war und von jetzt an die Sorge für die Erhaltung der Familie übernahm.

Riemann wandte sich jetzt mit erneutem Eifer wieder seinen schon in den Jahren 1851 und 1852 begonnenen Untersuchungen über die Theorie der Abel'schen Functionen zu und machte dieselbe zum ersten Male von Michaelis 1855 bis Michaelis 1856 zum Gegenstande seiner Vorlesungen, an denen drei Zuhörer, Schering, Bjerknes und sein College Dedekind Theil nahmen. Im Sommer 1856 wurde er zum Assessor der mathematischen Classe der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften ernannt; als solcher überreichte er am 2. November seine Abhandlung über die Gauss'sche Reihe und schrieb an demselben Tage seinem Bruder: ,,Auch hoffe ich, dass meine Arbeiten mir Früchte tragen sollen. Meine Abhandlung ist, wie ich Dir schon schrieb, jetzt zum Druck fertig, und vielleicht wird sie die Societät in ihren Schriften drucken lassen, allerdings eine grosse Ehre, da diese in den letzten 50 Jahren nur mathematische Abhandlungen von Gauss enthalten haben. Die mathematische Section der Societät, bestehend aus Weber, Ulrich und Dirichlet wird wenigstens nach Weber's Aeusserungen wohl auf den Druck meiner Abhandlung antragen. - Mit meinen Vorlesungen, d. h. mit dem Besuch derselben, bin ich ziemlich zufrieden, besonders bei der geringen Zahl der neu angekommenen Studenten. Es sind gar keine Mathematiker unter diesen und das ist auch wohl der Grund, dass Dedekind und Westphal ihre Privatvorlesungen nicht zu Stande bekommen haben. Die Anzahl meiner Zuhörer betrug nun an den vier Tagen, an denen ich gelesen habe, erst drei, dann vier und die letzten beiden Male fünf; doch war hierunter wohl ein Hospitant. Sehr lieb ist es mir, das ich diesmal auch einige Zuhörer aus den ersten Semestern habe, nicht wie sonst bloss aus dem sechsten und späteren Semestern, weil ich dies als ein Zeichen betrachte, dass meine Vorlesungen leichter verständlich werden. Bei alledem kann ich noch nicht behaupten, dass meine Vorlesungen zu Stande gekommen sind; denn es hat sich noch Niemand bei mir gemeldet und ist also immer noch möglich, dass meine Herren Zuhörer mich in Stiche lassen. - Meine freie Zeit werde ich von jetzt an ganz auf die Arbeit über die Abel'schen Functionen, von der ich Dir erzählt habe, verwenden. Kurz vor meiner Wiederankunft hier in Göttingen ist auch der Hauptredacteur des mathematischen Journals, der Dr. Borchardt aus Berlin, hier gewesen und hat mir durch Dirichlet und Dedekind die Aufforderung zugehen lassen, ihm doch so bald wie möglich eine Darstellung meiner Untersuchungen über die Abel'schen Functionen, sie sei so roh wie sie wolle, zu schicken. Weierstrass ist jetzt stark im Publiciren, doch enthält das jetzt veröffentlichte Heft, von dem Scherk mir erzählte, nur die ersten Vorbereitungen zu seiner Theorie.``

In der That widmete er sich nun mit allen Kräften der Ausarbeitung dieses Werkes, so dass er die ersten drei kleineren Abhandlungen am 18. Mai, die vierte grössere am 2. Jul 1857 im Manuscript nach Berlin abschicken konnte; allein durch die übermässige Anstrengung hatte seine Gesundheit sehr gelitten, und er befand sich am Ende des Sommersemesters in einem Zustande geistiger Abspannung, der seine Stimmung in höchsten Grade verdüsterte. Zur Erfrischung und Stärkung seiner Gesundheit nahm er für einige Wochen seinen Aufenthalt in Harzburg, wohin ihn sein Freund Ritter (damals Lehrer an dem Polytechnicum zu Hannover, jetzt Professor in Aachen) auf einige Tage begleitete, und wohin ihm später sein College Dedekind folgte, mit dem er viele Spaziergänge und auch grössere Ausflüge in dem Harz machte. Auf solchen Spaziergängen erheiterte sich seine Stimmung, sein Zutrauen zu Anderen und zu sich selbst wuchs, sein harmlose Scherz und seine rückhaltlose Unterhaltung über wissenschaftliche Gegenstände machten ihn zu dem liebenswürdigsten und anregendsten Gesellschafter. In dieser Zeit wandten sich seine Gedanken wieder der Naturphilosophie zu, und eines Abends nach der Rückkehr von einem anstrengenden Wanderung griff er zu Brewster's Life of Newton, und sprach lange mit Bewunderung über den Brief an Bentley, in welchem Newton selbst die Unmöglichkeit unmittelbarer Fernwinkung behauptet.

Bald nach seiner Rückkehr nach Göttingen wurde er am 9. November 1857 zum ausserordentlichen Professor in der philosophischen Facultät ernannt, und seine Reumuneration von 200 Thaler auf 300 Thaler erhöht. Aber fast gleichzeitig erschütterte ihn auf das Tiefste der Tod seines innig geliebten Bruders Wilhelm; er übernimmt nun ganz die Sorge für seine drei noch lebenden Schwestern und dringt inständig darauf, dass sie noch im Laufe des Winters zu ihm nach Göttingen übersiedeln; dies geschah auch im Anfang März 1858, aber erst nachdem ihnen die jüngste Schwester, Marie, noch durch den Tod entrissen war. Nach so vielen Schicksalsschlägen trug das Zusammenleben mit den Schwestern wesentlich zur Besserung seiner tief niedergedrückten Gemüthsstimmung bei, und die Anerkennung, welche von nun an, wenn auch langsam, seinen Werken auch in weiteren Kreisen zu Theil wurde, hob allmählich sein gesunkenes Selbstvertrauen und liess ihn frischen Muth zu neuen Arbeiten finden. Schon vorher hatte er den später viel besprochenen Aufsatz, ,,Ein Beitrag zur Electrodynamik`` verfasst, über welchen er seiner Schwester Ida schreibt: ,,Meine Entdeckung über den Zusammenhang zwischen Electricität und Licht habe ich hier der Königl. Societät übergeben. Nach manchen Aeusserungen, die ich darüber vernommen, muss ich schliessen, dass Gauss eine andere von der meinigen verschiedene Theorie dieses Zusammenhangs aufgestellt und seinen nächsten Bekannten mitgetheilt hat. Ich bin aber völlig überzeugt, dass die meinige die richtige ist und in ein paar Jahren allgemein als solche anerkannt werden wird.`` Er hat bekanntlich diese Arbeit bald wieder zurückgezogen und auch später nicht veröffentlicht, wahrscheinlich weil er selbst mit der in ihr enthaltenen Ableitung nicht mehr zufrieden war.

In den Herbstferien 1858 machte er die Bekanntschaft der italienischen Mathematiker Brioschi, Betti und Casorati, welche damals eine Reise durch Deutschland machten und auch einige Tage in Göttingen verweilten; diese Verbindung sollte später in Italien wieder angeknüpft werden.

In diese Zeit fiel die Erkrankung Dirichlet's welcher seinen langen Leiden am 5. Mai 1859 erlag. Er hatte von Anfang and das lebhafteste persönliche Interesse für Riemann empfunden und bei allen Gelegenheiten bethätigt, wo er auf eine Verbesserung der äusserlichen Verhältnisse Riemann's hinwirken konnte. Inzwischen war des Letzteren wissenschaftliche Bedeutung so allgemein anerkannt, dass die Regierung nach Dirichlet's Tode von der Berufung eines auswärtigen Mathematikers absah; Ostern 1859 wurde für Riemann eine Wohnung in der Sternwarte eingeräumt, am 30. Juli wurde er zum ordentlichen Professor ernannt und im December einstimmig zum ordentlichen Mitgliede der Gesellschaft der Wissenschaften erwählt. Schon vorher, am 11. August, hatte die Berliner Akademie der Wissenschaften ihn zum correspondirenden Mitgliede in der physicalisch-mathematischen Classe ernannt, und dies veranlasste ihn, im September in Dedekind's Gesellschaft nach Berlin zu reisen, wo er von den dortigen Gelehrten, Kummer, Borchardt, Kronecker, Weierstrass mit Auszeichnung und grosser Herzlichkeit aufgenommen wurde. Eine Folge seiner Ernennung, welcher später, im März 1866, die Wahl zum auswärtigen Mitgliede gefolgt ist,4 und dieses Besuchs war es, dass er im October seine Abhandlung über die Häufigkeit der Primzahlen der Berliner Akademie einreichte un einen, nach seinem Tode veröffentlichten Brief über die vielfach periodischen Functionen an Weierstrass richtete.

Einen Monat später übergab er der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften seine Abhandlung über die Fortpflanzung ebener Luftwellen von endlicher Schwingingsweite.

In den Osterferien 1860 machte er eine Reise nach Paris, wo er sich vom 26. März ab einen Monat aufhielt; leider war das Wetter sehr rauh und unfreundlich, noch in der letzten Woche gab es mehrere Tage hinter einander Schnee und Hagel, so dass die Besichtigung von Merkwürdigkeiten oft geradezu unmöglich war. Dagegen war er sehr zufrieden mit der freundlichen Aufnahme von Seiten der Pariser Gelehrten Serret, Bertrand, Hermite, Puiseux und Briot, bei welchem er einen Tag auf dem Lande in Chatenay mit Bouquet sehr angenehm verlebte.

In demselben Jahre vollendete er seine Abhandlung über die Bewegung eines flüssigen Ellipsoides und wendete sich der Bearbeitung der von der Pariser Akademie gestellten Preisaufgabe über die Theorie der Wärmeleitung zu, für welche er durch seine Untersuchungen über die Hypothesen der Geometrie schon früher die Grundlagen gewonnen hatte. Im Juni 1861 sandte er seine in lateinischer Sprache abgefasste Lösung unter dem Motto ,,Et his principiis via sternitur ad majora`` ein; dieselbe errang indessen den Preis nicht, weil es ihm an Zeit gefehlt hatte, die zur Durchführung nöthige Rechnung vollständig mitzutheilen.

Das in den letzten Jahren ungetrübte, glückliche Leben, dessen Riemann sich erfreuen durfte, erreichte seinen Höhepunkt, als er sich am 3. Juni 1862 mit Fräulein Elise Koch aus Körchow in Mecklenburg-Schwerin, einer Freundin seiner Schwestern verheirathete; es war ihr beschieden, die bevorstehenden Jahre des Leidens mit ihm zu theilen und durch unermüdliche Liebe zu verschönern. Schon im Juli desselben Jahres befiel ihn eine Brustfellentzündung, von welcher er scheinbar zwar sich rasch erholte, welche aber doch den Keim zu einer Lungenkrankheit zurückliess, die sein frühes Ende herbeiführen sollte. Als ihm von den Aerzten ein längerer Aufenthalt im Süden zur Heilung angerathen war, gelang es der dringenden Verwendung von Wilhelm Weber und Sartorius von Waltershausen, von der Regierung nicht nur den erforderlichen Urlaub, sondern auch eine ausreichende Unterstützung zu einer Reise nach Italien für ihn auszuwirken, welche er im November 1862 antrat. Durch Sartorius von Waltershausen auf das Wärmste empfohlen, fand er das freundlichste Entgegenkommen in der Familie des Consuls Jäger in Messina, auf deren Villa in der Vorstadt Gazzi er den Winter verlebte. Sein Befinden besserte sich rasch, und er konnte Ausflüge nach Taormina, Catania und Syracus unternehmen. Auf der Rückreise, welche er am 19. März 1863 antrat, besuchte er Palermo, Neapel, Rom, Livorno, Pisa, Florenz, Bologna, Mailand; bei längerem Aufenthalte in diesen Städten, deren Kunstschätze und Alterthümer sein grösstes Interesse erweckten, machte er zugleich Bekanntschaft mit den bedeutendsten Gelehrten Italiens, und namentlich schloss er sich mit inniger Freundschaft an Professor Enrico Betti in Pisa an, der er schon im Jahre 1858 in Göttingen kennen gelernt hatte. Ueberhaupt bildet der mehrjährige Aufenthalt Riemann's in Italien, so traurig die nächste Veranlassung desselben auch war, einen wahren Lichtpunkt in seinem Leben; nicht allein, dass ihn das Schauen aller Herrlichkeit dieses enzückenden Landes, von Natur und Kunst, unendlich beglückte, erfühlte sich dort auch als freier Mensch dem Menschen gegenüber, ohne alle die hemmenden Rücksichten, die er in Göttingen auf Schritt und Tritt nehmen zu müssen meinte; dies Alles und der wohlthätige Einfluss des herrlichen Klimas auf seine Gesundheit stimmte ihn oft recht froh und heiter und liess ihn dort viele glückliche Tage verleben.

Mit den besten Hoffnungen verliess er das ihm so lieb gewordene Italien, allein er zog sich auf dem Uebergange über den Splügen, wo er unvorsichtiger Weise eine Strecke lang zu Fuss durch den Schnee ging, eine heftige Erkältung zu, und nach der Ankunft in Göttingen, welche am 17. Juni erfolgte, war sein Befinden fortwährend so schlecht, dass er sich sehr bald zu einer zweiten Reise nach Italien entschliessen musste, welche er am 21. August antrat. Er wandte sich zunächst nach Meran, Venedig, Florenz, dann nach Pisa, wo ihm am 22. December 1863 eine Tochter geboren wurde, welche nach seiner älteren Schwester der Namen Ida erhielt. Unglücklicher Weise war der Winter so kalt, dass der Arno zufror. Im Mai 1864 bezog er eine Villa vor Pisa; hier verlor er Ende August seine jüngere Schwester, Helene; er selbst wurde von der Gelbsucht befallen, welche auch eine Verschlimmerung eines Brustleidens zur Folge hatte. Eine Berufung nach Pisa an Stelle von Professor Mosotti, welche schon im Jahre 1863 durch Vermittlung von Betti an ihn ergangen war, hatte er theils auf den Rath seiner Göttinger Freunde, hauptsächlich aber wohl aus dem Grunde abgelehnt, weil er die mit der ihm angetragenen Stellung verbundenen Pflichten bei seinem angegriffenen Gesundheitszustande nicht vollständig erfüllen zu können befürchtete und deshalb sich ausser Stande fühlte, die Annahme des Rufes vor sich zu verantworten. Dasselbe Pflichtgefühl erweckte den dringenden Wunsch in him, nach Göttingen zurückzukehren und sich wieder seinem Lehramte zu widmen, und nur auf die ernsten Vorstellungen der Aerzte und seiner Freunde entschloss er sich dazu, auch den folgenden Winter in Italien zuzubringen, welchen er zu Pisa in angenehmem geselligen und wissenschaftlichen Verkehr mit den dortigen Gelehrten Betti, Felici, Novi, Villari, Tassinari, Beltrami verlebte; in jener Zeit arbeitete er auch an seiner Abhandlung über das Verschwinden der Theta-Functionen. Den Mai und Juni 1865 brachte er bei schlechtem Befinden in Livorno, den Juli und August am Lago Maggiore, den September in Pegli bei Genua zu, wo durch ein gastrisches Fieber eine bedeutende Verschlimmerung seines Zustandes eintrat.

Unter diesen Umständen konnte Riemann seinem immer lebhafteren Wunsche, nach Göttingen zurückzukehren, nicht länger widerstehen; er langte am 3. October an und verlebte daselbst den Winter bei erträglich gutem Befinden, welches ihm meistens gestattete, einige Stunden täglich zu arbeiten. Er vollendete die Abhandlung über das Verschwinden der Theta-Functionen und übertrug seinem früheren Schüler Hattendorff die Ausarbeitung der Abhandlung über die Minimalflächen; er sprach auch öfter den Wunsch aus, vor seinem Ende noch über einige seiner unvollendeten Arbeiten mit Dedekind zu sprechen, fühlte sich aber stets zu schwach und angegriffen, um denselben zu einem Besuche in Göttingen zu veranlassen. In den letzten Monaten beschäftigte er sich mit der Ausarbeitung einer Abhandlung über die Mechanik des Ohres, welche leider nicht vollendet und nur als Fragment nach seinem Tode von Henle und Schering herausgegeben ist.

Die Vollendung dieser Abhandlung sowie einiger anderen Arbeiten lag ihm sehr am Herzen, und er hoffte durch einen Aufenthalt von einigen Monaten am Lago Maggiore, wohin ihn ausserdem grosse Sehnsucht nach dem ihm so lieb gewordenen Lande trieb, die dazu erforderlichen Kräfte noch sammeln zu können. So entschloss er sich am 15. Juni 1866, in den ersten Kriegstagen, zu seiner dritten Reise nach Italien; dieselbe wurde schon in Cassel unterbrochen, weil die Eisenbahn zerstört war, doch gelangte er mit Fuhrwerk glücklich bis Giessen, von wo die Weiterreise keine fernenen Hinternisse fand. Am 28. Juni traf er am Lago Maggiore ein, wo er in der Villa Pisoni in Selasca bei Intra wohnte. Rasch nahmen seine Kräfte ab, und er selbst fühlte mit voller Klarheit sein Ende herannahen; aber noch am Tage vor seinem Tode arbeitete er, unter einem Feigenbaum ruhend und von grosser Freude über den Anblick der herrlichen Landschaft erfüllt, an seinem letzten, leider unvollendet gebliebenen Werke. Sein Ende war ein sehr sanftes, ohne Kampf und Todesschauer; es schien, als ob er mit Interesse dem Scheiden der Seele vom Körper folgte; seine Gattin musste ihm Brod und Wein reichen, er trug ihr Grüsse an die Leben daheim auf und sagte ihr: küsse unser Kind. Sie betete das Vater Unser mit ihm, er konnte nicht mehr sprechen; bei den Worten ,,Vergieb uns unsere Schuld`` richtete er gläubig das Auge nach oben; sie fühlte seine Hand in der ihrigen kälter werden, und nach einigen Athemzügen hatter sein reines, edeles Herz zu schlagen aufgehört. Der fromme Sinn, der im Vaterhaus gepflanzt war, blieb ihm durch das ganze Leben, und er diente, wenn auch nicht in derselben Form, treu seinem Gott; mit der grössten Pietät vermied er, Andere in ihrem Glauben zu stören; die tägliche Selbstprüfung vor dem Angesichte Gottes war, nach seinem eigenen Ausspruche, für ihn eine Hauptsache in der Religion.

Er ruht auf dem Kirchhofe zu Biganzolo, wohin Selasca eingepfarrt ist. Sein Grabstein trägt die Inschrift:

Hir ruhet in Gott
GEORG FRIEDRICH BERNHARD RIEMANN, Prof. zu Göttingen,
geb. in Breselenz 17. Sept. 1826, gest. in Selasca 20. Juni 1866.
Denen die Gott lieben müssen alle Dinge zum Besten dienen.5


Anmerkungen

1 Einer Mittheilung von W. Weber zufolge wünschte Gauss selbst nicht, dass Riemann diese Stellung übernähme; er zweifelte zwar nicht an seiner theoretischen und praktischen Befähigung für dieselbe, aber er hatte schon damals eine so hohe Meinung von Riemann's wissenschaftlicher Bedeutung, dass er befürchtete, derselbe möchte durch die mit dieser Stellung verbundenen zeitraubenden und zum Theil untergeordneten Dienstgeschäfte von seinem eigentlichen Arbeitsfelde gar zu sehr abgelenkt werden.

2 Ueber die Darstellbarkeit einer Function durch eine trigonometrische Reihe.

3 Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen.

4 Bezüglich der äusserlichen Auszeichnungen, deren Riemann theilhaftig geworden ist, mag hier noch bemerkt werden, dass die Bayerische Akademie der Wissenschaften ihn am 28. November 1859 zum correspondirenden, am 28. November 1863 zum ordentlichen Mitgliede, ferner dass die Pariser Akademie ihn am 19. März 1866 zu ihrem correspondirenden Mitgliede ernannte; ebenso wurde er am 14. Juni 1866, kurz vor seinem Tode, von der Londoner Royal Society zu deren auswärtigem Mitgliede erwählt.

5 Der Grabstein, der ihm von italienischen Freunden und Fachgenossen gewidmet war, ist bei einer Verlegung des Friedhofes beseitigt worden.